«inside» Nr. 2 / Dezember 2024

Siedlungen / Geschichten

Ein Leben in der Röntgenhof – Geschichten aus neun Jahrzehnten

Ernst wurde 1935 im Sydefädeli 19 geboren und verbrachte dort seine Kindheit – in einer Gemeinschaft voller Abenteuer, die den Kindern eine Freiheit schenkte, wie man sie heute kaum noch findet. «Das war unser kleines Paradies mitten in der Stadt», erinnert sich Ernst. Rund um die Siedlung erlebten die Kinder Natur pur: Im Sommer pflückten sie Brombeeren und im Winter schlittelten sie bis zum Breitenstein.

Die frühen Jahre waren jedoch nicht nur unbeschwert. Ernst verlor mit 15 Jahren seinen Vater, der bei einem Skiunfall an der Rigi verunglückte. Ernst hatte einen grossen Traum und begann eine Lehre als Elektromechaniker bei der SBB. Sein Ziel war klar: Lokführer werden. Nach der Lehre zog es ihn für zwei Jahre in den Jura, wo er diesen Traum verwirklichen konnte. Mit Stolz und einem Funkeln in den Augen blickt Ernst heute auf seine 40-jährige Karriere zurück. Besonders eindrucksvoll: Er gehörte zu den letzten Lokführern, die noch eine Dampflokomotive steuern durften – inklusive dem Einfeuern des Kessels. «Das war noch richtiges Arbeiten», sagt er lachend.

Ernst war nicht der einzige Eisenbähnler in seiner Siedlung. Früher arbeiteten viele Bewohner ebenfalls bei der SBB, darunter auch der damalige Genossenschaftspräsident Robert Schmid, der als Lokführer und Politiker tätig war.

Im Jura lernte Ernst schliesslich auch seine Frau Trudi kennen. Nach der Hochzeit und der Geburt ihrer Tochter zog die kleine Familie nach Zürich zurück und wohnte zunächst bei Ernsts Mutter im Sydefädeli. 1957 konnten sie in eine Parterrewohnung an der Ottostrasse 18 einziehen. 1966 bezog die Familie dann eine Dreizimmerwohnung im zweiten Stock, wo Ernst auch nach dem Tod seiner Frau heute noch wohnt.

Seit den 1960er-Jahren verbindet Ernst eine besondere Liebe mit Südafrika, wohin sein Onkel Röbi ausgewandert war. «Es war eine andere Welt, aber das hat mich immer fasziniert.» Aus Begeisterung lernte er sogar Englisch.

Neben der Eisenbahn wurde das Segeln eine seiner grossen Leidenschaften. Mit seiner eigenen 9-Meter-Yacht verbrachte er viele Jahre auf dem Zürichsee, bis ein Sturz auf dem Üetliberg ihn zwang, dieses Hobby aufzugeben. Seine Yacht segelt heute auf dem Ammersee in Deutschland weiter. «Da draussen auf dem See, mit dem Wind im Segel – das war pure Freiheit.»

Nächstes Jahr feiert Ernst seinen 90. Geburtstag. Er ist der älteste Bewohner der Röntgenhof und gleichzeitig derjenige, der am längsten dort wohnt. Mit wachem Geist und verschmitztem Lächeln bewältigt er noch immer seinen Alltag selbständig. Seine Enkelin Sarah, die mittlerweile sein Auto übernommen hat, besucht ihn regelmässig und unterstützt ihn beim Einkaufen.

Ernst ist ein gern gesehener Gast im Restaurant «Oberes Triemli», wo er sich einmal monatlich mit seinem Freund zum Zmittag trifft. Zudem hat er noch keine einzige Generalversammlung der Röntgenhof verpasst. Auch an weiteren Senioren-Ausflügen von den Naturfreunden oder den ehemaligen Bähnlern nimmt er stets mit Freude teil. «Solange ich kann, bin ich dabei.»

Wir wünschen Ernst viele weitere Jahre voller Gesundheit, Humor und Lebensfreude und hoffen, dass er noch lange selbständig in seiner Wohnung leben kann.